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Anthroposophische Medizin

Begegnung als Wesenskern

Im Zeitalter des technisch perfekten, routinierten und allgemeingültigen „Managed Care“ suchen Menschen oft doch wieder individuelle Begegnung zur Vermittlung von Heilung. Für sie stellt sich die menschliche Begegnung – zunächst zwischen Therapeut und Patient – als eine wichtige Voraussetzung für eine stimmige Therapie dar. Eventuell stossen sie dabei auf die von Dr. phil. Rudolf Steiner impulsierte und Dr. med. Ita Wegman bereits vor dem 2. Weltkrieg gegründete Anthroposophische Medizin.

Ein wesentlicher Faktor der Anthroposophie-Medizin ist die Begegnung: Zwischen Ärzten beziehungsweise Therapeuten und Patienten wie zwischen Ärzten und Therapeuten untereinander.

Anthroposophische Ärzte fördern unter Einbeziehung von Leib, Lebensorganisation, Seele und Geist die adäquate Stellung des Menschen zu sich selbst und in der Welt, der Menschen untereinander, des Therapeuten gegenüber dem Patienten und des Therapeuten gegenüber anderen Therapeuten.

Gesundes Leben ist von Rhythmen getragen

Diese Stellung ist nicht statisch zu verstehen: Vielmehr wollen verschiedenartige Qualitäten in situativ verschiedenartiger Ausprägung durch adäquate Rhythmen verbunden werden. So kann sich beim Einzelnen ein symphonisch-dynamisches Gleichgewicht seiner eigenen gegensätzlichen Polaritäten finden, das sich dann auch über den individuellen Menschen hinweg in die Gemeinschaft hinein ausweiten kann. Derartige Harmonie ist Gesundheit. Therapeuten wirken katalysatorisch auf die Herstellung dieses Gleichgewichts im Patienten. Dies ist so nur durch Begegnung möglich.

Gesundheit ist ansteckend!

Idealerweise wirkt der Gesunde durch sein eigenes Gleichgewicht dann harmonisierend auf seine Umwelt, wo er ihr begegnet. Gesundheit ist deshalb unter Begegnungsfähigen ansteckender als Krankheit – und wird so zur Frage gesellschaftlicher Verantwortung. Innerhalb anthroposophisch-medizinischer Zusammenhänge wird deshalb angestrebt, dass sich Therapeuten neben Ihren vielseitigen Patientenbegegnungen auch in grösseren und kleineren Arbeitsgruppen regelmässig als Menschen begegnen.

Balance zwischen Polaritäten

Wo geschieht menschliche Begegnung in diesem Sinne? Auf der Ebene der stets rhythmisch beweglichen, labilen, unfassbaren und unbeschreiblichen Herzens- und Atmungstätigkeit, der Mitte des dreigliedrigen Menschen – aufgespannt zwischen dem oberen Nerven-Sinnes-Pol (des Denkens und der Wahrnehmung) und dem unteren Stoffwechsel-Gliedmassen-Pol (des Wollens und des Tuns).

Der offene, obere Pol bietet uns – bei nahezu unbegrenzten Möglichkeiten (wir können mit unserem Denken die ganze Welt umspannen) –  Klarheit und sicheren Halt im bewussten Alltag: Gedanken sind neutral und unmissverständlich kommunizierbar, sie können geordnet und sogar niedergeschrieben werden, sie sind diskutabel, also wäg- und handhabbar, wir können uns auf sie beziehen und abstützen.

Der untere Pol ist von entgegengesetzter Qualität: Er ist eng, denn er ist das Filtrat von Entscheidungen: Im Wollen kristallisieren wir aus vielen denkbaren Optionen eine heraus, als unmittelbare Vorbereitung zur eindeutigen Tat. Doch auch diese der gedanklichen Vielfalt gegenüberstehende Eindeutigkeit gibt uns alltäglich bewusste Sicherheit: Die Sicherheit von handfesten Ergebnissen, von Tatsachen, von Fakten – von physisch Gewordenem.

Spiritualität aus fortentwickeltem Gefühl – zwischen und jenseits von Alltagssicherheiten

Durch die Klarheit des Denk-Pols einerseits und die Eindeutigkeit des Willens-Pols andererseits finden wir also unsere bewusste Orientierung, auf die wir in unserer westlichen Gesellschaft gewöhnlich unseren Alltag abstützen. 

Diese gegensätzlichen, grundsätzlich in jedem  menschlichen Organismus sich begegnenden Pole aber müssen klar getrennt arbeiten: Wo nämlich die Freiheit des Denkens unmittelbar das Handeln regiert, entsteht Beliebigkeit. Bestimmt aber die Enge des Wollens unvermittelt das Denken, führt sie zu Willkür. Für eine gesunde Vermittlung der Gegensätze innerhalb der menschlichen Entität steht deren Mitte, die Qualität der Atmungs- und Herzens-, im Seelischen der Gefühlsebene. Fehlt diese, bleibt uns nur noch die Welt des sinnlich Wahrnehmbaren und der Gedanken, die sich darauf beziehen: Die Materie und der Materialismus. 

Auch organisch finden wir in der menschlichen Mitte die Lunge und das Herz. In Ihnen begegnen sich zum Beispiel menschliche Innen- und Aussenwelten. Sie arbeiten rhythmisch. Rhythmus ist von Takt zu unterscheiden: Er ist situations- und umgebungsangepasste, flexible Regelmässigkeit. 

Die menschliche Mitte weist nichts von den streitbaren Qualitäten der Pole des Denkens oder des Wollens auf, an denen wir uns innerhalb der Sinneswelt halten könnten: In der Vermittlung zwischen den Welten liegt ein Punkt, in dem das Ende der einen der Anfang der entgegengesetzten Welt ist und umgekehrt: Hier ist alles nichts und nichts ist alles: Aus dem sinnlich-bewussten Verständnis heraus nicht einzuordnen, ungreifbar, eventuell gar beängstigend. 

Wenn aber nur mehr das sinnlich Wahrnehmbare anerkannt wird und gilt, krankt die Atmungs- und Herzensebene, im Seelischen das zwischen Denken und Wollen vermittelnde Gefühl. Wir sind längst so weit, dass Atemerkrankungen und organische Herzerkrankungen zu den häufigsten in unserer zivilisierten Bevölkerungen zählen, dass Angst die häufigste seelische Störung ist. Verflachung sozialer Kontakte und Isolation sind ein gesellschaftlicher Ausdruck unserer Armut an echter Begegnungsfähigkeit.

Freiheit und Freiheitsfähigkeit

Dieses Undefinierte halten und aushalten: Ist das die Freiheitsfähigkeit des Ich, die uns Tor zu unseren nicht-materiellen Anteilen, zum Wesentlichen, zum Geistigen sein kann? Wie ist diese Spiritualität zu erlangen? 

Wohlpräpariert durch gute Gedanken und geführtes Wollen können wir auf der Herzensebene letztlich ungestützt, undefiniert, nicht mitteilbar, nur dynamisch gehalten, völlig immateriell, wesentlich, das heisst, in und mit unserem Wesen, unserem menschlichen Geist, sein. In dieser Selbstbegegnung werden wir urteilsfähig, unser Ich reift. Dadurch können wir uns selbst erkennen, identifizieren, authentisch werden.

Diese Begegnungsfähigkeit mit sich selbst ist eine Grundlage für die Begegnungsfähigkeit mit anderen Menschen, für Liebesfähigkeit, für echte Sozialfähigkeit.

Ärzte und Therapeuten als Katalysatoren

Wenn sich der Arzt für Anthroposophie oder Therapeut mit dem anthroposophischen Blick auf seinen Patienten einer entkoppelten, nicht mehr ausreichend von Herzens-, Gefühls- oder Ich-Wärme vermittelten Polarität konfrontiert sieht, wird er sich bemühen, den Patienten liebend zu erkennen, ihn in seiner spezifischen Situation zu verstehen

Diese Begegnung zwischen Therapeut und Patient in ihrer Qualität von möglichst spezifischer, einzigartiger Gegenwärtigkeit kann dem Patienten helfen, seine eigenen vermittelnden, harmonisierenden Prozesse derart zu impulsieren, dass darüber kränkende Verfestigungen oder Vereinseitigungen heilend reguliert werden. Solche zwischenmenschliche Liebe ist ein Tor zur geistigen Welt. In ihr liegt die eigentliche zukünftige Heilkraft.

Liebe ist mehr als Gefühlsduselei

Liebe ist somit therapeutische Grundlage – mehr als Gefühlsduselei, vielmehr Notwendigkeit aus Erkenntnis. Dabei ist sie von grösstem diagnostischem Wert: Wer liebend betrachtet und urteilt, öffnet seinen Blickwinkel erheblich im Vergleich zum kalten Analytiker; das liegt an der geistigen Dimension, die er  dazugewinnt durch das wirkliche Verständnis für den anderen, das ihm unter anderem auch  ermöglicht, die Welt aus dessen Augen zu betrachten. 

Die therapeutische Bedeutung liegt darin, dass sich der andere wirklich verstanden weiss und fühlt. Eine wiederhergestellte Offenheit für ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen sich und der umgebenden Welt ermöglicht dem anderen dann eine Berichtigung ins Ungleichgewicht geratener Verhältnisse.

Wahl der richtigen Heilmittel aus Verständnis

Wenn ein anthroposophischer Arzt zur Heilung eines Patienten Substanzen aus dem Aussermenschlichen, in welcher Form auch immer, zu Hilfe nimmt, so können diese auch nur dann wirken, wenn sie richtig gewählt und verabreicht sind. 

Die richtige Wahl aber kann am ehesten durch jenes liebevolle Verständnis getroffen werden, die der Arzt sowohl für den Patienten in seiner jeweils einzigartigen Situation, als auch für passende Stoffprozesse in der Aussenwelt aufbringt. Auch alle sonstigen nichtmateriellen Therapieformen sind letztlich für verschiedene Ebenen mehr oder weniger spezifische Kommunikationsmöglichkeiten, Verständnisübermittler, Begegnungshilfen.

Individuelle Menschen brauchen individuelle Therapien

Mit der konventionellen Schulmedizin hat die Anthroposophie Medizin gemeinsam, dass sie die Stofflichkeit als unbedingte Voraussetzung für das inkarnierte Menschsein betrachtet. 

Nur die Materie ist in die Dimensionen von Raum und Zeit hineingestellt und ermöglicht so jeweils ein Moment der Einzigartigkeit als Voraussetzung für eine bewusste gegenwärtig individuelle Begegnung. Aus anthroposophisch-medizinischer Sicht ergibt sich daraus allerdings die Notwendigkeit der individuellen Therapie auch und gerade bis hin zur stofflichen Ebene. 

Je individueller Menschen werden, desto weniger können ihnen vordefinierte, ausschliesslich auf Masse bezogene wissenschaftliche Standardmethodik, verallgemeinernde Stufendiagnostik und therapeutische Leitlinien generell gerecht werden.

Da unsere moderne Gesellschaft durch Auflösung von Erbfolgen, Traditionen, Gruppennormierungen, religiösen Vorgaben  und Selbstverständlichkeiten, von vorgegebenen moralischen Verhaltensregeln und Selbstverständlichkeiten geprägt ist, neigen ihre Mitglieder vermehrt zur Individualisierung.

Zur adäquaten Ausgestaltung derselben benötigen Menschen Freiheit und Möglichkeiten zur Selbstbestimmung. Kaum entstanden, wird dieser Trend mit materiellen Fesseln, existenziellen finanziellen und zeitlichen Verknappungen, egalisierende Verführung durch Konsum und Medien sowie Manifestation globaler übermächtiger Autoritäten unterdrückt.

Weil aber die Individualität eine Notwendigkeit auf dem Weg der menschlichen Entwicklung ist, wirkt diese Unterdrückung kränkend. Kompensiert werden kann diese Not durch innere Qualitäten, für deren Förderung die anthroposophische Medizin wertvolle Impulse auf allen menschlichen Ebenen bieten kann.